Anka Hätzel
Anka Hätzel, Frankfurt, liest aus Erich Kästner, Pünktchen und Anton, 1931
Seit meiner Kindheit kenne ich die Bücher von Erich Kästner. Wenn ich krank war hat mir meine Oma daraus vorgelesen und auch heute noch lese ich gerne seine Erzählungen. Es sind Kinderbücher die häufig den Alltag mit seinen Sorgen und Nöten zeigt, die Ungerechtigkeiten der Welt abbildet aber vor allem Freundschaft und Zusammenhalt als Erfolgsrezept aufzeigt. Sie zeigen auch, dass man etwas machen kann, sogar als Kind. Dies ist wohl auch der Grund warum die Nationalsozialisten die Bücher von Erich Kästner (bis auf Emil und die Detektive) verbrannt haben. Schlaue, selbstbewusste und selbstständig denkende Kinder sind unbequem für Erwachsene und Gift für eine Gesellschaft die auf Ausgrenzung und Angst beruht.
Lesen will ich aus Pünktchen und Anton, erstmals erschienen 1931. Mein Buch ist von meiner Oma aus dem Jahr 1950.
Vorweg, für alle die es nicht kennen, Pünktchen ist ein Mädchen aus reichem Haus und ihr Freund Anton lebt in armen Verhältnissen alleine mit seiner kranken Mutter. Nach den einzelnen Kapiteln der Erzählung hat Erich Kästner immer eine Nachdenkerei eingefügt um die Erzählung mit dem Leser zu verbinden.
Sechstes Kapitel – Die Kinder machen Nachtschicht
… Anton stand auf der anderen Seite der Brücke, auf der faulen Seite, wo wenig Menschen vorübergingen. Er hielt einen kleinen aufgeklappten Handkoffer vor sich uns sagte, wenn jemand vorbeikam: „Braune oder schwarze Schnürsenkel für Halbschuhe gefällig? Streichhölzer kann man immer brauchen, bitte schön.“ Er hatte kein kaufmännisches Talent. Er verstand es nicht, den Leuten vorzujammern, obwohl ich, das Heulen näher war als das Lachen. Er hatte dem Hauswirt versprochen, übermorgen fünf Mark Miete abzuzahlen, das Wirtschaftsgeld war auch schon wieder zu Ende. Er mußte morgen Margarine besorgen, sogar ein Viertelpfund Leberwurst war geplant.
„Du gehörst ja auch eher ins Bett als hierher“, sagte ein Herr. Anton sah in groß an. „Das Betteln macht mir aber solchen Spaß“, murmelte er.
Der Mann schämt sich ein bißchen. „Na ja, schon gut“, meinte er. „Sei nur nicht gleich böse.“ Und dann gab er ihm ein Geldstück. Es waren fünfzig Pfennig!
„Ich danke Ihnen sehr“, sagte Anton und hielt ihm zwei Paar Schnürsenkel hin.
„Ich trage Zugstiefel“, erklärte der Herr, zog den Hut vor dem Jungen und ging eilig weiter.
Anton freute sich und blickte über die Brücke zu seiner Freundin. Hallo, war das nicht Klepperbein? Er schlug sein Köfferchen zu und rannte über die Straße. Gottfried Klepperbein hatte sich vor Pünktchen und Fräulein Andacht postiert und musterte sie frech. Pünktchen streckte dem Portierjungen zwar die Zunge raus, doch das Kinderfräulein zitterte vor Aufregung. Anton gab dem Klepperbein einen Tritt in den Allerwertesten. Der Junge fuhr wütend herum, als er aber den Anton Gast dastehen sah, erinnerte er sich der Ohrfeigen vom Nachmittag und verschwand im Dauerlauf.
„Den wären wir los“, sagte Pünktchen und reichte Anton die Hand. …
Die sechste Nachdenkerei handelt: – Von der Armut
Vor ungefähr hundertfünfzig Jahren zogen einmal die Ärmsten der Pariser Bevölkerung nach Versailles, wo der französische König und seine Frau wohnten. Es war ein Demonstrationszug, ihr wißt ja, was das ist. Die armen Leute stellten sich vor dem Schloß auf und riefen: „Wir haben kein Brot! Wir haben kein Brot!“ So schlecht ging es ihnen.
Die Königin Marie Antoinette stand am Fenster und fragte einen hohen Offizier: „Was wollen die Leute?“
„Majestät“, antwortete der Offizier, „sie wollen Brot, sie haben zu wenig Bort, sie haben zu großen Hunger.“
Die Königin schüttelte verwundert den Kopf. „Sie haben nicht genug Brot?“ fragte sie. „Dann sollen sie doch Kuchen essen!“
Ihr denkt vielleicht, sie sagte das, um sich über die armen Leute lustig zu machen. Nein, sie wußte nicht, was Armut ist! Sie dachte, wenn zufällig nicht genug Brot das ist, ißt man eben Kuchen. Sie kannte das Volk nicht, sie kannte die Armut nicht, und ein Jahr später wurde sie geköpft. Das hatte sie davon.
Glaubt ihr nicht auch, daß die Armut leichter abgeschafft werden könnte, wenn die Reichen schon als Kinder wüßten, wie schlimm es ist, arm zu sein? Glaubt ihr nicht, daß sich dann die reichen Kinder sagten: Wenn wir mal groß sind und die Banken und Rittergüter und Fabriken unserer Väter besitzen, dann sollen es die Arbeiter besser haben! Die Arbeiter, das wären ja dann ihre Spielkameraden aus der Kindheit…
Glaubt ihr, daß das möglich wäre?
Wollt ihr helfen, daß es so wird?
Aus:
Pünktchen und Anton, ein Roman für Kinder von Erich Kästner, Illustriert von Walter Trier, Williams & Co. Verlag, Berlin, Lizenz-Ausgabe des Atrium-Verlag, Zürich für Deutschland, 36.-40. Tausend Oktober 1950. Erste Veröffentlichung war 1931.