Antonella Cannata

Antonella Cannata, Eppstein, liest Kurt Tucholsky, Der Graben, 1926

 

Im Jahr der ersten Drucklegung dieses Gedichtes, 1926, ist Deutschland dem Völkerbund beigetreten. Das Gedicht wurde am 20. November 1926  in der Zeitung Das Andere Deutschland gedruckt. Für Tucholsky war klar, dass die Völkerversöhnung nicht nur Sache der Politik ist, sondern vor allem das eigentliche Volk betrifft. In „Der Graben“, das den Ersten Weltkrieg thematisiert, zeigt er unter anderem die Sinnlosigkeit des Krieges auf.

 

 

 

 

Der Graben

 

Mutter, wozu hast du deinen Sohn aufgezogen?
Hast dich zwanzig Jahr mit ihm gequält?
Wozu ist er dir in deinen Arm geflogen,
und du hast ihm leise was erzählt?
Bis sie ihn dir weggenommen haben.
Für den Graben, Mutter, für den Graben.

 

Junge, kannst du noch an Vater denken?
Vater nahm dich oft auf seinen Arm.
Und er wollt dir einen Groschen schenken,
und er spielte mit dir Räuber und Gendarm.
Bis sie ihn dir weggenommen haben.
Für den Graben, Junge, für den Graben.

 

Drüben die französischen Genossen
lagen dicht bei Englands Arbeitsmann.
Alle haben sie ihr Blut vergossen,
und zerschossen ruht heut Mann bei Mann.
Alte Leute, Männer, mancher Knabe
in dem einen großen Massengrabe.

 

Seid nicht stolz auf Orden und Geklunker!
Seid nicht stolz auf Narben und die Zeit!
In die Gräben schickten euch die Junker,
Staatswahn und der Fabrikantenneid.
Ihr wart gut genug zum Fraß für Raben,
für das Grab, Kameraden, für den Graben!

 

Werft die Fahnen fort!
Die Militärkapellen spielen auf zu euerm Todestanz.
Seid ihr hin: ein Kranz von Immortellen –
das ist dann der Dank des Vaterlands.

 

Denkt an Todesröcheln und Gestöhne.
Drüben stehen Väter, Mütter, Söhne,
schuften schwer, wie ihr, ums bißchen Leben.
Wollt ihr denen nicht die Hände geben?
Reicht die Bruderhand als schönste aller Gaben
übern Graben, Leute, übern Graben -!

 

Quelle: K. Tucholsky, Zwischen Gestern und Morgen, Rowohlt,7. Ed., 1979, p. 98-99.

nachzulesen bei Wikisource: https://de.wikisource.org/wiki/Der_Graben

Das Gedicht wurde von Hanns Eisler vertont. Eine großartige Interpretation von Gisela May ist hier zu hören: https://www.youtube.com/watch?v=U9eQ38d9iZ4

 

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