Gudrun Schmidt
Gudrun Schmidt, Frankfurt, liest von Maria Leitner zwei Reportagen aus Frankfurt-Höchst
Ich habe mir für die heutige Lesung wieder eine Frau ausgesucht:
die ungarische, deutschsprachige Journalistin und Schriftstellerin Maria Leitner. Sie gilt als eine der ersten Investigativ-Journalistinnen – war also so etwas wie der weibliche Wallraff der 1920er und 1930er Jahre. Sie machte Übersetzungen (z.B. Jack Londons Roman „Die eiserne Ferse“), schrieb sozialkritische Reportagen während einer mehrjährigen Rundreise durch die USA und Lateinamerika. Sie nahm 80 verschiedene Stellen an, um über die Arbeitsbedingungen der „Kleinen Leute“ zu berichten (von Dienstmädchen, von Zigarettendreherinnen, Arbeiter*innen in Diamantminen und aus Zuchthäusern usw.) – von der Kehrseite des „American Dream“. 1929 kam Maria Leitner zurück nach Berlin, veröffentlichte eine Novelle zur Zerschlagung der Räterepublik in Ungarn. 1930 veröffentlichte sie ihren ersten sozialkritischen Roman „Hotel Amerika“, der 1933 auf die Liste der zu verbrennenden Bücher gesetzt wurde. 1932 reiste sie im Rahmen antifaschistischer Aktionen durch Deutschland und berichtete für Zeitungen über die Situation in kleinen Städten und Dörfern, in denen die Nazis schon die Politik bestimmten. Nach der Machtübernahme durch die Nazis 1933 lebte sie noch eine Zeitlang illegal in Deutschland und ging dann ins Exil – über Prag, das Saarland nach Paris, wo sie bis April 1940 lebte. Sie kehrte mehrmals illegal nach Deutschland zurück, schrieb Reportagen darüber und berichtete über die Kriegsvorbereitungen der Nazis, bevor sie im Lager Camp de Gurs in den französischen Pyrenäen interniert wurde. Sie konnte aus dem Lager fliehen, aber ihr Versuch, ein Visum für die Auswanderung in die USA zu bekommen, scheiterte. Sie starb am 14. März 1942 in Marseille an körperlicher Erschöpfung.
Ich werde aus dem Band „Elisabeth, ein Hitlermädchen“ zwei Texte von Maria Leitner lesen. Es handelt sich um zwei Reportagen aus Frankfurt-Höchst, wo sich eine Produktionsstätte des IG-Farben-Konzerns befand (vielen bekannt als „Farbwerke Höchst“). Neben Farben wurden dort im Zuge der Kriegsvorbereitungen der Nazis auch Gifte produziert. Die Repräsentanten des IG-Farben Konzerns waren übrigens wichtige Unterstützer Hitlers schon vor der Machtübertragung 1933 und natürlich auch danach. Der Konzern war wesentlich beteiligt am Vierjahres-Programm der Hitler-Regierung zur Kriegsvorbereitung.
Quelle: Maria Leitner, Elisabeth, ein Hitlermädchen – Erzählende Prosa, Reportagen und Berichte, Aufbau-Verlag Berlin und Weimar, 1985. Die beiden ausgewählten Reportagen stammen aus dem Jahr 1937.