Wir lesen aus verbrannten Büchern

Ein KLICK auf die Fotos führt zur Lesung.

Sabine Baumann liest Anna Seghers
Bruni Freyeisen liest Erich Kästner
Jo van Nelsen interpretiert Tucholsky
Ulli Nissen liest aus den Tagebüchern Anna Haags
Sonja Ebel-Eisa liest Pariser Commune

Norbert Birkwald liest Lion Feuchtwanger


Bettina Kaminski liest Marieluise Fleißer

 

Marius Peters liest Erich Kästner

Ich habe dieses Jahr die „Ballade vom Nachahmungstrieb“ ausgesucht, die Erich Kästner im Jahr 1932 verfasste. Ganz unbedarft bringen darin einige Kinder im Spiel ein anderes Kind um, weil sie eben gehört haben, dass das zum Umgang mit Räubern dazugehört. Alles, was die Erwachsenen tun, so mahnt das Gedicht, formt die Kinder, die ihnen nacheifern.
Erich Kästner behauptete, die Ballade nach einer wahren Begebenheit geschrieben zu haben, von der er in der Zeitung las; allerdings kennt man wohl den Zeitungsbericht nicht, auf den er sich bezieht. Es ist wohl aber nicht zu weit hergeholt, die Ballade auch als düstere Prophetie darüber zu lesen, dass der aufziehende Faschismus im Land nichts ist, das sich die Faschisten alleine und aus dem Nichts ausgedacht hätten. Genauso sind die rechten Bewegungen, mit denen wir es heute zu tun haben, nicht neu entstanden, sondern stehen in einer Kontinuität mit dem alten Faschismus des Dritten Reiches, denn die, die den „Kindern“, den nachfolgenden Generationen auf einer gesellschaftlichen, nicht individuellen Ebene, gesagt haben, wie die Gesellschaft funktioniert, haben Rassismus, Antisemitismus, Krieg und Klassenkampf von Kapitalseite aus immer mitgetragen.

Benni Roth, Frankfurt, liest aus: Bertolt Brecht/Elisabeth Hauptmann:  Das Lied von der Unzulänglichkeit.
Das Lied von der Unzulänglichkeit menschlichen Strebens, in: Die Dreigroschenoper, Dritter Akt, Berlin 1928. (Quelle:
https://www.deutschelyrik.de/das-lied-von-der-unzulaenglichkeit.html)

Die Dreigroschenoper war das erfolgreichste Theaterstück der Weimarer Republik. Basierend auf der ‚Beggar’s Opera‘ von John Gay (1728), erzählt sie die Geschichte einer Londoner Bettelmafia. Ihr berühmter Satz „Erst das Fressen, dann die Moral“ hat seinen Eingang in die Alltagssprache gefunden. Die Darstellung menschlichen Elends und die Entlarvung bürgerlicher Heuchelei war unvereinbar mit den sterilen Fantasien der Nazis. Am 10. Mai 1933 wurde Brechts bisheriges Werk vom Nationalsozialistischen Studentenbund verbrannt. Den Flammen ebenfalls zum Opfer fielen:

– Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. 1927.
– Die heilige Johanna das Schlachthöfe. 1929.
– Der Jasager. Der Neinsager. 1929.

Brecht selbst überlebte die Nazizeit und ließ sich im Exil nicht von den Gräueln entmutigen. Einige seiner besten Werke entstanden unter ihrem
Eindruck: Leben des Galilei (1939/1943), Mutter Courage und ihre Kinder (1939/1941), Der Aufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui (1941/1958).
Ebenfalls ans Herz gelegt seien seine unvollendeten Flüchtlingsgespräche
(1941/1958) und der Aufsatz Das andere Deutschland (1944/1966, https://movementofthought.wordpress.com/2009/08/30/the-other-germany-by-bertold-brecht/).

Zum Schluss, frei nach Brecht: Manchem Nazi tut, ein Klaps auf den Hut, vielleicht mal ganz gut. (Wobei ein funktionierender Sozialstaat, politische Bildung und kulturelle Vielfalt zur Vorbeugung besser sind.)

P.S. Im Hintergrund läuft das 31. Orchester von Arnold Schönberg (1926/28, https://www.youtube.com/watch?v=mFvtSGCFVO0). Schönberg vollendete die Spätromantik und brachte mit seiner Zwölftonmusik wieder etwas Ordnung ins Durcheinander des Expressionismus. Seine Musik galt im NS als ‚Entartete Musik‘ und der jüdischstämmige Schönberg selbst musste in die USA emigrieren. Dort komponierte er noch bis zu seinem Tod 1951 weitere Stücke und wurde ein wichtiger Webereiter der sogenannten ‚Neuen Musik‘.

 

Gabriele Kentrup liest Erich Kästner

Erich Kästner „Die Entwicklung der Menschheit“ (1932)

Das letzte Kapitel (1930)

Dem Revolutionär Jesus zum Geburtstag (1930)

Conni Hechler liest Bertold Brecht

Die Geschichten vom Herrn Keuner, auch bekannt unter dem Namen „Geschichten vom Herrn K.“, sind Parabeln von Bertolt Brecht.

Sie entstanden verteilt über einen Zeitraum von mehr als 30 Jahren, seit dem Jahre seiner Heirat mit Helene Weigel (1926), während Brechts Zeit im Exil bis zu seinem Tod (1956). Die erste dieser Geschichten schrieb Brecht im Jahre 1926 im Zusammenhang mit den Arbeiten an dem Stück Fatzer. 1948 erschienen Brechts Kalendergeschichten, in denen 39 Keuner-Geschichten enthalten sind. Die hier zitierte Geschichte gilt als die erste Geschichte des Herrn K.

Herr Keuner und die Zeitungen 

Herr Keuner begegnete Herrn Wirr, dem Kämpfer gegen die Zeitungen. „Ich bin ein großer Gegner der Zeitungen“, sagte Herr Wirr, „ich will keine Zeitungen.“


Herr Keuner sagte: „Ich bin ein größerer Gegner der Zeitungen: ich will andere Zeitungen.“ „Schreiben Sie mir auf einen Zettel“, sagte Herr Keuner zu Herrn Wirr, „was Sie verlangen, damit Zeitungen erscheinen können. Denn Zeitungen werden erscheinen. Verlangen Sie aber ein Minimum. Wenn Sie zum Beispiel Bestechliche zuließen, sie zu verfertigen, so wäre es mir lieber, als daß Sie Unbestechliche verlangten, denn ich würde sie dann einfach bestechen, damit sie die Zeitungen verbesserten. Aber selbst wenn Sie Unbestechliche verlangten, so wollen wir doch anfangen, solche zu suchen, und wenn wir keine finden, so wollen wir doch anfangen, welche zu erzeugen. Schreiben Sie auf einen Zettel, wie die Zeitungen sein sollen, und wenn wir eine Ameise finden, die den Zettel billigt, so wollen wir gleich anfangen. Die Ameise wird uns mehr helfen, die Zeitungen zu verbessern, als ein allgemeines Geschrei über die Unverbesserlichkeit der Zeitungen. Eher nämlich wird ein Gebirge durch eine einzige Ameise beseitigt als durch das Gerücht, es sei nicht zu beseitigen.“


Wenn die Zeitungen ein Mittel zur Unordnung sind, so sind sie auch ein Mittel zur Ordnung. Gerade Leute wie Herr Wirr bewiesen durch ihre Unzufriedenheit den Wert der Zeitungen.


Herr Wirr meint, der heutige Unwert der Zeitungen beschäftige ihn, aber in Wirklichkeit ist es der morgige Wert. Herr Wirr hielt den Menschen für hoch und die Zeitungen für unverbesserbar, Herr Keuner hingegen hielt den Menschen für niedrig und die Zeitungen für verbesserbar. „Alles kann besser werden“, sagte Herr Keuner, „außer dem Menschen.“