Bundesverfassungsgericht: Verfassungsbeschwerde

14. Dezember 2022

Zwei hessische Antifaschist*innen vor dem Bundesverfassungsgericht: Mündliche Verhandlung am 20. Dezember 2022 über Verfassungsbeschwerden in Sachen automatisierte Datenauswertung durch die Polizei und den Verfassungsschutz in Hessen

Silvia Gingold und Norbert Birkwald waren beide vor 50 Jahren wg. ihrer antifaschistischen Gesinnung und Betätigung Opfer der Berufsverbotepolitik. Und auch Jahrzehnte danach sind sie noch immer im Visier des sogenannten Verfassungsschutzes und werden von diesem bespitzelt.

Beide haben 2019 gemeinsam mit fünf weiteren Beschwerdeführer*innen (darunter die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Basay-Yildiz, der Journalist Franz Josef Hanke, Vorsitzender der Humanistischen Union Mittelhessen und Klaus Landefeld, Vorstandsmitglied des Verbands der Internetwirtschaft eco)Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegt. Ihre Verfassungsbeschwerde richtet sich gegen Neuregelungen des Hessischen Verfassungsschutzgesetzes (HVSG) sowie des Hessischen Sicherheits- und Ordnungsgesetzes (HSOG), die am 04.07.2018 durch das Gesetz zur Neuausrichtung des Verfassungsschutzes in Hessen in Kraft getreten sind und mit denen die Überwachungsbefugnisse von Polizei und Verfassungsschutz massiv ausweitet werden. In Hessen dürfen die Behörden nun sogenannte Staatstrojaner einsetzen. Mit der Software Hessendata werden personenbezogene Daten zentral und automatisiert ausgewertet.

Die Beschwerdeführer*innen machen im Wesentlichen geltend, die von ihnen mit ihrer Verfassungsbeschwerde angegriffenen Regelungen verletzten sie in ihrem Recht auf informationelle Selbstbestimmung nach Art. 2 Abs. 1 Grundgesetz (GG) in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG sowie den Grundrechten aus Art. 13 Abs. 1 GG (Unverletzlichkeit der Wohnung) und Art. 10 Abs. 1 GG (Post- und Fernmeldegeheimnis).

In der Beschwerdeschrift wird festgestellt:

Die Beschwerdeführerin zu 1 (Silvia Gingold) lebt in Kassel und ist Lehrerin in Ruhestand. Sie stammt aus einer jüdischen Familie, ihr Vater Peter Gingold war nach seiner Flucht aus Deutschland im französischen Widerstand gegen den Nationalismus aktiv… Die Beschwerdeführerin… ist bis heute in der VVN-BdA aktiv und gewähltes Mitglied des Sprecher*innenrats der Landesvereinigung Hessen der VVN-BdA. Die VVN-BdA versteht sich als überparteiliche Sammelorganisation von Menschen, die gegen neofaschistische, rassistische und nationalistische Bestrebungen eintreten. Obwohl die VVN-BdA im Jahresbericht des Landesamts nicht namentlich genannt wird, steht die VVN-BdA nach Angaben des Landesamts gleichwohl in Hessen ebenso wie in zahlreichen anderen Bundesländern unter Beobachtung… Die Beschwerdeführerin… ist dem Landesamt nachweislich auch persönlich bekannt und wird bis heute vom Landesamt beobachtet… Seit 2009 wird beim Landesamt eine Personenakte zur Beschwerdeführerin… geführt. Dies brachte sie durch eine Anfrage vom 16.10.2012 an das Landesamt in Erfahrung. Mit Antwort vom 18.11.2012 teilte man ihr mit, dass sie seit 2009 im Bereich Linksextremismus gespeichert sei… Die Beschwerdeführerin erhob 27.05.2013 Klage gegen das Landesamt und verlangte vollumfängliche Auskunft über die über sie erhobenen Daten sowie Löschung dieser Daten… Auch im Rahmen des Gerichtsverfahrens hat das Landesamt die personenbezogenen Daten der Beschwerdeführerin nicht offengelegt, über 100 Seiten der Akte waren überwiegend geschwärzt. Das Landesamt hat im Rahmen des Verwaltungsgerichtsverfahrens am 07.10.2013 eine Sperrerklärung für nicht vorgelegte Bestandteile der Akte abgegeben… Diese Sperrerklärung weist darauf hin, dass im direkten Umfeld der Beschwerdeführerin auch verdeckte Ermittler*innen und Vertrauenspersonen eingesetzt werden…“

Der Beschwerdeführer zu 2 (Norbert Birkwald)

lebt in Mörfelden-Walldorf und ist Sprecher der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) in Hessen. Als Lehramtsanwärter erhielt der Beschwerdeführer… 1974 ein Berufsverbot und hat in Folge dessen auch in späteren Jahren keine Stelle als Lehrer gefunden… Im Komitee ‚40 Jahre Berufsverbote‘ setzt er sich gegen die Nachwirkungen der Berufsverbote ein und hat sich in diesem Zusammenhang beim hessischen Landesamt für Verfassungsschutz erkundigt, welche Daten über ihn vorliegen. Am 7. Juni 2018 erhielt der Beschwerdeführer… auf Nachfrage beim Landesamt für Verfassungsschutz die Auskunft, dass über ihn Daten im Phänomenbereich Linksextremismus gespeichert sind. Diese Daten umfassten seine Stellung als Mitglied im Sprecher*innenrat der VVN-Bda und seine Funktion als Webmaster der Internetseiten der VVN-BdA Hessen und der Internetseite der DKP-Linke Liste Mörfelden-Walldorf… In der Akte des Landesamts für Verfassungsschutz der Beschwerdeführerin zu 1 (Silvia Gingold) taucht der Beschwerdeführer zu 2 ebenfalls auf, als Teilnehmer an einer Demonstration gegen die NSU und zu 40 Jahren Berufsverbote im Jahr 2012…“

Am 11.11.2022 teilte das Bundesverfassungsgericht mit, dass der Erste Senat am 20.12.2022 über diese Verfassungsbeschwerde und eine gleichgelagerte Verfassungsbeschwerde gegen das Hamburger Gesetz über die Datenverarbeitung der Polizei (PolDVG) in mündlicher Verhandlung beraten wird. Bei beiden Regelungen handelt es sich um landesgesetzliche Ermächtigungen der Polizei zur Auswertung von Daten mittels einer automatisierten Anwendung. Zum Hintergrund der Verfassungsbeschwerden teilt das Gericht mit: „Die angegriffenen Regelungen schaffen eine Rechtsgrundlage dafür, bei Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen eine softwaregestützte Auswertung polizeilicher bzw. der für die Polizei verfügbaren Datenbestände vornehmen zu können. Das Ziel einer solchen automatisierten Weiterverarbeitung besteht den angegriffenen Regelungen nach insbesondere darin, Beziehungen oder Zusammenhänge zwischen Personen, Personengruppierungen, Institutionen, Organisationen, Objekten und Sachen herzustellen, unbedeutende Informationen und Erkenntnisse auszuschließen, die eingehenden Erkenntnisse zu bekannten Sachverhalten zuzuordnen sowie gespeicherte Daten statistisch auszuwerten. Nach Auffassung der Beschwerdeführenden liegt hierin ein intensiver und nicht gerechtfertigter Grundrechtseingriff, da die Befugnisse die Auswertung umfangreicher Datenbestände unter Nutzung komplexer informationstechnischer Programme gestatteten, ohne hierfür hinreichende Anforderungen vorzusehen.“

Die Verfassungsbeschwerden wurden mit Unterstützung der Gesellschaft für Freiheitsrechte e. V. (GFF) erarbeitet und eingereicht, bezogen auf das Hessische Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung (HSOG) und das Hessische Verfassungsschutzgesetz unterstützt von der Humanistischen Union Hessen, dem Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung und der Bürgerrechtsgruppe dieDatenschützer Rhein Main.

Sarah Lincoln, Juristin und Verfahrenskoordinatorin bei der GFF, stellt dazu fest: “Mit dem Hessentrojaner und der Big-Data-Analysesoftware Hessendata liegt Hessen beim Angriff auf die Freiheitsrechte im Ländervergleich weit vorne.” Näheres dazu auf der Homepage der GFF.

Ungeachtet der anhängigen Verfassungsbeschwerde gegen das HSOG haben die Fraktionen von CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN im März 2022 einem weiteren Gesetzesentwurf für ein Gesetz zur Änderung sicherheitsrechtlicher Vorschriften und zur Umorganisation der hessischen Bereitschaftspolizei (Landtags-Drucksache 20/8129) vorgelegt, mit dem u. a. das hessische „Verfassungsschutz“gesetz” und das HSOG erneut geändert werden sollen. Im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens wurde auch die Bürgerrechtsgruppe dieDatenschützer Rhein Main vom Innenausschuss des hessischen Landtags gebeten, eine Stellungnahme zu diesem Gesetzentwurf abzugeben. Darin wird u. a. festgestellt: „Aus mindestens zwei Gründen ist der weitere Gesetzgebungsprozess bis auf Weiteres zu stoppen:

  1. Mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 26.04.2022 zum Bayrischen Verfassungsschutzgesetz steht auch der Gesetzesentwurf der Fraktionen der CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – insbesondere Artikel 1 ‚Änderung des Hessischen Verfassungsschutzgesetzes‘ und Artikel 2 ‚Änderung des Hessischen Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung‘ – auf dem Prüfstand. ‚Business as usual‘ oder ‚weiter so im Tagesgeschäft‘ ist nach dieser Gerichtsentscheidung das falsche Rezept.
  2. Gegen das Gesetz der Neuausrichtung des Verfassungsschutzes in Hessen aus 2018 ist noch eine – von der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) unterstützte – Klage vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig. Ihr Ausgang ist abzuwarten, bevor dem Hessischen Landesamt für Verfassungsschutz weitere Überwachungs-Kompetenzen übertragen werden.“

Derzeit „ruht“ das weitere Verfahren, da es der Koalition aus CDU und Grünen in Hessen schwer zu fallen scheint, ihr Vorhaben an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts anzupassen.

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Ein Gastbeitrag von Datenschutzrheinmain von der Bürgerrechtsgruppe dieDatenschützer Rhein Main (https://ddrm.de/)

VVN-BdA Stammtisch am 7. Dezember

1. Dezember 2022

Jeden 1. Mittwoch im Monat:

VVN-BdA Stammtisch

Thema: Brasilien nach der Wahl
Vortrag und Diskussion mit Gisela Puschmann

Gisela Puschmann wird am Mittwoch, den 7. Dezember 2022 um 19 Uhr beim Stammtisch der VVN-BdA Frankfurt über den Ausgang der Wahlen in Brasilien berichten. Sie ist eine langjährige und ausgewiesene Kennerin der politischen Situation Brasiliens. Welche Folgen für das Land wird die Niederlage Bolsonaros haben? Welche Folgen, sind nach dem Wahlsieg Lula da Silvas zu erwarten? Wird es zu einem Putsch des Militärs und zu einem Bürgerkrieg in Brasilien kommen? Welche Auswirkungen wird das Wahlergebnis für Lateinamerika haben? Diese und weitere Fragen wird uns Gisela Puschmann beantworten.
Gisela Puschmann ist Juristin mit einem ihrer Schwerpunkte Brasilien und Mitglied in Vereinigungen mit brasilianischem Bezug :
Deutsch-Brasilianische Industrie- und Handelskammer, São Paulo
Lateinamerika Verein e. V., Hamburg
Deutsch-Brasilianische Gesellschaft e.V.

07.12.2022 | 19:00 Uhr | Club Voltaire, Frankfurt

Kommt vorbei!

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„Stoppt das Töten in der Ukraine – Aufrüstung ist nicht die Lösung“

17. November 2022

In Frankfurt am Main ruft ein Breites Bündnis am Samstag, den 19. November 2022 um 11Uhr auf dem Goetheplatz zu einer Friedensaktion auf.
Ein breites Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen rufen unter dem Motto „Stoppt das Töten in der Ukraine – Aufrüstung ist nicht die Lösung“ zu Protesten auf.
Zum Bündnis gehören aktuell die Arbeitsgemeinschaft Dienst für den Frieden, attac, der Bund für Soziale Verteidigung, die Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegner*innen, das Frauennetzwerk für Frieden, das Netzwerk Friedenskooperative, Ohne Rüstung leben, Rheinmetall entwaffnen und die VVN-BdA
Von der Bundesregierung fordert das Bündnis, sich aktiv für eine diplomatische Lösung des Konflikts und für die Aufarbeitung von Völkerrechtsverbrechen einzusetzen. Außerdem sollen alle Menschen, die vor diesem und anderen Kriegen fliehen, sowie insbesondere Militärdienstentzieherinnen, Kriegsdienstverweigererinnen und Deserteur*innen in Deutschland und Europa Asyl finden können.
Die aktuelle Rüstungsspirale, an der viele Staaten der Welt, darunter Deutschland, beteiligt sind, müsse zum Wohle aller Menschen gestoppt werden. „Jeder Euro, Dollar, Griwna oder Rubel, der ins Militär fließt, fehlt im Kampf gegen globale Menschheitsprobleme wie die Klimakrise, Armut oder die Corona-Pandemie“, heißt es im Aufruf. Das Bündnis verurteilt den russischen Angriff auf die Ukraine.
?Die aufrufenden Organisationen grenzen sich dabei klar von Gruppen aus dem rechten Spektrum ab: „Für Menschen und Gruppen aus dem nationalistischen und antidemokratischen Spektrum ist auf unseren Aktionen kein Platz. Ebenso erteilen wir Menschen und Gruppen, die wissenschaftsfeindlich sind, die Journalist*innen angreifen, sowie Menschen und Gruppen, die Verschwörungsmythen anhängen und/oder Rassismus, anhängen und/oder Rassismus, Antisemitismus, Sexismus oder andere diskriminierende Botschaften verbreiten, eine Absage“.?

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Wir gedenken und mahnen

3. November 2022

84. Jahrestag der Pogrome des deutschen Faschismus

Am Donnerstag, 10. November 2022 um 17.00 Uhr gedenken wir an dem Platz vor der Festhalle, Friedrich-Ebert-Anlage, neben dem Messeturm, der Verbrechen, die der deutsche Faschismus verübt hat. Hier gibt es nun
einen würdigen Mahn- und Gedenkplatz im öffentlichen Bereich der Frankfurter Messe mit einer Kopie der Gedenkplatte, die an der Außenfassade der Festhalle angebracht ist.

Es sprechen:
Oberbürgermeister Peter Feldmann
Norbert Birkwald, Sprecher der VVN-BdA
Elisabeth Leuschner, Initiative 9. November e.V.
Musikalische Begleitung:
Maria & Nico, Akkordeon und Saxophon
Ute Christmann mit Chor
Ein Bass-Sänger trägt die Arie „In diesen heiligen Hallen“ vor.


Am 9. November 1938, vor nunmehr 84 Jahren, brannten in Deutschland 1.400 Synagogen, Gebetsräume und weitere jüdische Versammlungsstätten. Mehrere tausend Geschäfte, Wohnungen und jüdische Friedhöfe wurden zerstört oder geschändet. Mehr als 400 Juden wurden ermordet oder in den Suizid getrieben.
In den folgenden Tagen wurden 30.000 Juden in Konzentrationslager verschleppt. Hunderte verloren dort in kurzer Zeit ihr Leben.
Dieses Novemberpogrom war der von den deutschen Faschisten verordnete und lückenlos geplante Übergang von der Diskriminierung und Ausgrenzung zur systematischen Verfolgung und Vernichtung der Juden. Es handelte sich nicht, wie von den Nazis verbreitet, um einen Volksaufstand, sondern um Staatsterror, der zur Shoa und zur Ermordung von sechs Millionen Juden führte.
In Frankfurt ließen Nazischergen und SS am Abend des 9. November 1938 die Synagogen schänden, demolieren oder niederbrennen. Es traf nicht nur die Synagoge im Westend und am Börneplatz, auch die in der Friedberger Anlage, in Höchst und weiteren Stadtteilen wurden Opfer des braunen Terrors.

An den darauffolgenden Tagen wurden mehr als dreitausend männliche Juden verhaftet und in der Festhalle festgesetzt. Unter ihnen befand sich auch der Bass-Opernsänger Hans Erl, den der Gauleiter der NSDAP, Jakob Sprenger, zwang, aus Mozarts Zauberflöte die Arie „In diesen heiligen Hallen“ vorzutragen. Es wurde still.
Im Juni 1942, wurden Hans Erl und seine Ehefrau Sofie vermutlich im KZ Majdanek oder im Vernichtungslager Sobibor ermordet.
Der Name Hans Erls wird auf der Gedenktafel der Städtischen Bühnen genannt. Erl zu Ehren stellte man 1955 im Foyer der Oper eine von Alfred Müllergroß gestiftete und von Georg Mahr geschaffene Büste auf. Vor dem letzten Wohnort von Sofie und Hans Erl, in der Eschersheimer Landstraße 267, wurden zwei Stolpersteine zum mahnenden Gedenken verlegt.

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